New Work: Noch immer aktuell

Nehmen wir an, Karl Marx sei noch am Leben und hätte miterlebt, auf welch unterschiedliche Weise seine Idee des Kommunismus im Lauf der Jahre interpretiert wurde. Sicherlich wäre er von totalitären politischen Systemen, deren Weltbild und Massenverbrechen wie der maoistischen Kulturrevolution oder dem Großen Terror unter Stalin nicht begeistert und würde sich deutlich von diesen distanzieren.

Prof. Dr. Frithjof Bergmann erging es zu Lebzeiten mit New Work ähnlich. Der austro-amerikanische Philosoph, der in deutschsprachigen Vorträgen auch den Begriff Neue Arbeit benutzte, entwickelte Ende der 1970er Jahre eine unerhört revolutionäre Sozialutopie. Diese sah nicht nur eine Teilung des starr getakteten 8-Stunden-Arbeitsalltags vor, sondern auch eine Sinnsuche und -findung der einzelnen Arbeitnehmer in ihren Tätigkeiten. Berufung statt Beruf. Die aktuelle Interpretation der New Work-Idee reichte ihm nicht weit genug.

Die kreative Kraft

Bergmann war kein Hippie-Philosoph. Er hatte einen Lehrstuhl an der University of Michigan inne und führte Lehraufträge an der Stanford-Universität, der University of Chicago und der University of Berkeley aus. Daneben beriet er Regierungen, Firmen, Gewerkschaften und Kommunen in Fragen der Zukunft der Arbeit und der Innovationsfreudigkeit. Und er ärgerte sich darüber, dass heutzutage bereits ein bisschen mehr Eigenverantwortung im Job als New Work gilt.

Marx und seine Kritik am Kapitalismus

Wie Karl Marx, setzte sich auch Frithjof Bergmann intensiv mit dem vorherrschenden Modell des Kapitalismus‘ auseinander. In seinem Hauptwerk „Das Kapital“ charakterisierte Karl Marx das Wesen der menschlichen Existenz als „Fähigkeit des Menschen, seine Umwelt schöpferisch und frei zu gestalten“. Diese kreative Kraft ist laut Bergmann auch der Schlüssel zur New Work, welche das durch unflexible Arbeitsmodelle ausgebremste Potential der Arbeiter nutzen wollte.

Das New Work der 1970er

New Work sah vor, die Lohnarbeitszeit zu verringern und um die Sparten Selbstversorgung und selbstständige Tätigkeiten zu erweitern, die den individuellen Fähigkeiten des Einzelnen eher entsprechen als beispielsweise seine Arbeit am Fließband. Bei der Suche nach einer für ihn geeigneten Nebentätigkeit solle der Mitarbeiter kräftig unterstützt werden – und zwar vom Arbeitgeber!

Das klingt weltfremd? Nicht, wenn man den Kontext betrachtet, in dem New Work geboren wurde. Bergmann arbeitete in den 1970er Jahren bei General Motors in Flint/Michigan, wo sich die Werksarbeiter bedingt durch Rezession und den Einsatz moderner Fertigungstechniken mit drohenden Massenentlassungen konfrontiert sahen. Diese sollten durch Kurzarbeit verhindert und zugleich den Arbeitern werksseitig dabei geholfen werden, in der freigestellten Zeit ihre Talente für andere Tätigkeiten zu finden.

Digitalisierung und Automatisierung erfordern Umdenken

So gesehen, war New Work zunächst eine Form des Krisenmanagements. Dass Bergmanns Idee nach vielen Jahren gerade eine Renaissance und Neuinterpretation erlebt, verdankt sie weitaus größeren, strukturellen Umwälzungen auf dem Arbeitsmarkt als seinerzeit in Michigan. Was die Frage aufwirft, ob man New Work angesichts der veränderten Umstände neu interpretieren darf oder gar muss.

Was hat sich geändert?

Der arbeitende Mensch der Gegenwart strebt vermehrt nach Selbstverwirklichung und dem Integrieren seiner Talente in seine berufliche Tätigkeit. Dieser durchaus egoistische Wunsch wurde in früheren Zeiten arbeitgeberseitig eher als Hemmnis empfunden. Konformität war das Gebot der Stunde, Individualisierung jeglicher Art war verpönt. Schließlich musste auch der Vorgesetzte Punkt 8:00 Uhr am Schreibtisch sitzen, statt seiner Verantwortung vom Frühstückstisch aus nachzugehen.

Arbeit und Freizeit sind kein Widerspruch

Längst haben wir jedoch den Übergang vom Industrie- zum Dienstleistungs- und digitalen Zeitalter vollzogen. In vielen Unternehmen haben sich mehr oder weniger innovative Ansätze bei der Gestaltung des Arbeitsumfelds bereits durchgesetzt. Eigenverantwortung, gesundheitspräventive Maßnahmen und das Berücksichtigen von privaten Rahmenbedingungen sollen Mitarbeitern das Gefühl vermitteln, nicht mehr Untergebene, sondern geschätzte Ruderer im selben Boot zu sein.

Arbeitszeiten und –orte sind immer öfter flexibel, Beruf und Familie vereinbar und Hierarchien flacher. Teilzeitarbeit und Transparenz zählen längst zu den festen Bestandteilen des Arbeitslebens, und auch Home Office und Entspannungsseminare sollen zu einer Verbesserung der Work-Life-Balance beitragen. Doch ist dies tatsächlich New Work?

Spaß allein reicht nicht

Nein! sagte Frithjof Bergmann, dem diese Ansätze nicht weit genug gingen. Auch deshalb nicht, weil seine Vision einen anderen Ansatz verfolgte als das bloße Versüßen des Arbeitsalltags und den daraus resultierenden Spaß bei der Arbeit. In seiner ursprünglichen Vision der New Work sollten die Menschen ihre individuellen Talente suchen und in selbstständiger Weise zu ihrem wie auch zum Wohl der Gemeinschaft anwenden. Arbeit, die du wirklich, wirklich willst, so das New-Work-Credo.

Das klingt tatsächlich nicht nach Tischkicker und Team-Yoga. Diese sind bestenfalls das i-Tüpfelchen auf einer gelungenen New Work-Strategie. Kein Mensch arbeitet wegen der Tischtennispausen bei hippen Global Playern. Sondern weil die Arbeit dort seinen individuellen Neigungen entspricht und das Einbringen seiner Persönlichkeit geschätzt wird.

New Work 4.0

Flexibel denkende und agil handelnde Mitarbeiter stehen bei vielen Unternehmen hoch im Kurs. Auch engagierte Quereinsteiger und –denker sind gefragter denn je. Menschen, welche nicht nur ihre Arbeitszeit ableisten, sondern auch ihre individuellen Fähigkeiten in den Job einbringen. Die mit viel Empathie auf Kunden und spezielle Problemstellungen eingehen und auch mal unorthodoxe Ideen entwickeln, wenn ausgefallene Lösungen notwendig sind.

New Work lässt unkonventionelle Ideen zu

New Work in der Arbeitswelt 4.0 beinhaltet noch immer Frithjof Bergmanns Werte Selbstständigkeit, persönliche Freiheit und Teilhabe an der Gemeinschaft. Die aktuelle Interpretation seiner Sozialutopie diskreditiert diese Werte also keineswegs, sondern setzt sie innerhalb der heutigen Möglichkeiten einzelner Unternehmen und Branchen in die Praxis um.

 

Revolutionäre Ideen lassen sich oftmals nur im Rahmen von Kompromissen realisieren. Dies trifft auf neue Techniken und Ideologien ebenso zu wie auf Visionen. Nicht immer sind deren Erfinder mit dem Ergebnis zufrieden, siehe Karl Marx. Und doch rücken auch Kompromisse die Welt meist ein Stück weit in die von ihnen angedachte Richtung.

Ansätze für New Work: Der erste Schritt

Zunächst ist nicht entscheidend, wie konsequent das eigene Unternehmen die Philosophie von New Work umsetzt. Allein das Wahrnehmen der Mitarbeiter als Individuum mit Familie, Zielen, Engagement, Wünschen, Talenten und Ideen durch den Vorgesetzten bedeutet vielerorts bereits einen bedeutenden Schritt nach vorn.

Allerdings sollten auch die Mitarbeiter selbst an einer Verbesserung ihres Arbeitsumfelds und der Integration ihrer persönlichen Fähigkeiten interessiert sein. Und natürlich motiviert, sich in diesen Prozess proaktiv einzubringen – egal, ob man ihn New Work nennt oder nicht. Gerade in bislang streng hierarchisch geführten Organisationen ist dies keine Selbstverständlichkeit.

Das New Work-Feeling

Den  Arbeitnehmern wurde mit Einführung der Vertrauensarbeitszeit eine gewisse Selbstbestimmtheit gewährt. Schließtag in der Kita? In Ordnung, dann mache ich heute halt Home Office. Oma zum Arzt fahren? Dank gleitender Arbeitszeit kein Problem.

Das Vertrauen des Arbeitgebers ersetzte die Kontrolle und das Einräumen von Freiheiten führte zu erhöhter Selbstständigkeit bei den Mitarbeitern. Deren Eigenverantwortung kann weiter gesteigert werden, indem sie beispielsweise ihre Budgets selbst verwalten oder in wichtige unternehmerische Prozesse miteinbezogen werden.

So sind die Mitarbeiter mancher Unternehmen bei Entscheidungen stimmberechtigt, können eigene Leistungsziele selbst festlegen oder werden am Unternehmenserfolg beteiligt. Im Idealfall fühlt ihre Arbeit sich an wie die am eigenen Start-Up. Work-Life-Fusion statt nur –Balance.

In vielen Unternehmen sind solche Modelle längst etabliert. Oftmals nicht ganz freiwillig, denn die Lage auf dem Arbeitsmarkt verlangt nach Veränderung. Ob im IT- oder Pflegebereich, in der Beratung oder im Handwerk: Der Fachkräftemangel zwingt viele Unternehmen und Organisationen dazu, die Arbeitsbedingungen so attraktiv wie möglich zu gestalten.

Hausmittel gegen Fachkräftemangel

Nun ist es nicht jeder Branche vergönnt, mit Gewinnbeteiligungen um künftige Angestellte zu buhlen. Mitarbeitern im Pflegebereich erscheinen zuweilen selbst milde Formen von New Work wie flexible Arbeitszeiten, die Möglichkeit zur beruflichen Fortbildung oder flache Hierarchien wie gewagte Zukunftsutopien. Berufliche Perspektivlosigkeit und geringes Einkommen sind hingegen Realität und für den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen mitverantwortlich.

 

Pflegenotstand 2021

 

Der Mangel an Pflege(fach)kräften wurde in den letzten Jahren zum Dauerthema. Obwohl sie seit Jahren am Limit arbeiten und durch die Corona-Pandemie teilweise dauerüberlastet wurden, ist keine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Sicht. Jede dritte Pflegekraft denkt mittlerweile über einen Jobwechsel nach.

Dabei sind sich Pflegekräfte im Gegensatz zu manch anderen Arbeitnehmern der Tatsache bewusst, eine sinnvolle Tätigkeit auszuüben. Dieses Wissen reicht zur Mitarbeitergewinnung und –bindung allerdings nicht aus. Entscheidende Faktoren sind der Austausch mit Vorgesetzten und Kollegen, die Anerkennung der eigenen Arbeit und die Möglichkeit, diese mitzugestalten. Identifikation durch Integration. Oder, anders ausgedrückt: Echte Teilhabe an der Gemeinschaft.

Selbstbestimmtheit ist wichtig, Supervisionen oder die Aussicht auf den Erwerb akademischer Qualifikationen motivieren zusätzlich. Denn auch lebenslanges Lernen zählt zu den Grundprinzipien von New Work. Sie erinnern sich:  Arbeit, die du wirklich, wirklich willst. Die eigenen Qualifikationen optimiert man als Mitarbeiter schon aus eigenem Interesse.

Nur noch fünf Tage bis zum Wochenende

Die in ihren strengen Strukturen erstarrte Erwerbsarbeit der 1970er Jahre, welche Frithjof Bergmann mit einer leichten Erkältung verglich, die man noch bis Freitag aushalte, sollte zum Wohle der Mitarbeiter, aber auch des Unternehmens der Vergangenheit angehören.

Produktivität und Wachstum, jene Schlagworte der Industrialisierung, sind noch immer aktuell. Allerdings werden sie heute mit Motivation und Identifikation in direkten kausalen Zusammenhang gesetzt.

Moderne Unternehmen und Organisationen bauen auf Mitarbeiter, die nicht gezwungenermaßen, sondern gerne zur Arbeit erscheinen. Weil sich ihr Arbeitsumfeld stetig verbessert und die Teamarbeit gefördert wird. Weil sie sich nicht als kleine Rädchen in Getrieben, sondern als mitspracheberechtigten Teil der Unternehmensgemeinschaft empfinden. Und weil ihnen mehr Einfluss auf ihre Tätigkeit sowie Zeit für Familie und Hobbys gewährt wird.

Die Politik und New Work

Zur Zeit der geistigen Geburt von New Work in den 1970ern sah die Arbeitswelt noch ganz anders aus. Doch auch heute, da einzelne Unternehmen aus freien Stücken die 4-Tage-Woche einführen oder Mitarbeiter zu Mitunternehmern machen, tut sich die Politik schwer damit, die organisatorischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für bessere New Work zu schaffen. Zum Thema (Neue) Arbeit äußerten sich nahezu alle deutschen Volksparteien in der Vergangenheit gleichermaßen reserviert.

So propagierte die CDU noch bis vor kurzem einen Rechtsanspruch auf Teilzeit, die SPD möchte diesen für Home Office verankern. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) versuchte, mit seinem „Arbeit-von-morgen-Gesetz“ Stellenabbau zu vermeiden und die Kurzarbeit in Kombination mit Weiterqualifizierungen zu fördern – ein ähnlicher, wenn auch nicht so weit gefasster Ansatz wie in den 1970ern  bei General Motors in Flint.

Die Grünen stellten in Aussicht, nach der Elternzeit früher als bisher wieder in den Beruf zurückzukehren zu können, und die Linke hatte immerhin das Thema Crowdworking (freiberufliche Auftragsarbeit, z.B. Texterstellung) für sich entdeckt und wollte Selbstständige sozialrechtlich absichern. So oder so: Die Fokussierung auf Home Office allein genügt nicht.

Mehr Lebensfreude durch angewandte New Work

Apropos Home Office. Einer der wenigen Kritikpunkte an New Work bezieht sich auf den fließenden Übergang zwischen Berufs- und Privatleben. Da eine klare Abgrenzung fehle, häuften Mitarbeiter im Home Office viele Überstunden an, für die sie überdies nicht entlohnt würden. Andere Kritiker argumentieren, Unternehmen seien nicht dem Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter, sondern dem ihrer Kunden verpflichtet. Glückliche Mitarbeiter rechtfertigten keine möglichen Auftragsverluste.

Nun liegt es New Workern fern, ihrem Unternehmen Umsatzeinbußen zu bescheren, schließlich verstehen sie sich als Teil desselben. Und es obliegt jedem Unternehmen, die Regeln der New Work zu umreißen. Home Office beispielsweise ist nicht per se an eine Rufbereitschaft rund um die Uhr gekoppelt. Umgekehrt greifen Mitarbeiter aber gerne auch mal im heimischen Büro zum Hörer, wenn nach dem beruflichen Telefonat im Garten die Wasserschlacht mit dem Nachwuchs wartet.

Ja, Arbeit darf nämlich durchaus Spaß machen. Auch wenn Frithjof Bergmann dieses Wort im Zusammenhang mit New Work so gar nicht gefallen hatte.

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