Die Tagesalarmsicherheit bei der Feuerwehr: Ein Problem

Helden von nebenan

Wenn Kinder in Grundschulen und Kindergärten nach ihrem Berufswunsch befragt werden, rufen noch immer einige: „Na, Feuerwehrmann!“ (Mehr zu den Geschlechterrollen später im Artikel.) Schließlich verlangen dessen Tätigkeiten neben dem Einsatzwillen fürs Gemeinwohl und einer gewissen Umsicht auch ein gehöriges Maß an Unerschrockenheit. Heldeneigenschaften.

Vorstellung vs. Realität

In der Realität wird dieses „Heldentum“ allerdings oftmals von Vorschriften bestimmt. Von Gefahren, deren Ausmaß Außenstehende kaum erfassen. Von bürokratischem Gerangel mit Versicherungen, die bestimmte Einsätze im Nachhinein für überflüssig befinden. Von schrecklichen Bildern an Unfallstellen oder Brandorten, die man im Kopf mit nach Hause nimmt.

Helfen für lau

Und das alles oft ohne Bezahlung. Wie sich das für Helden geziemt. Denn die meisten Feuerwehrleute üben ihren „Beruf“ ehrenamtlich aus. Und müssen überdies oft damit leben, von der Berufsfeuerwehr als „minderwertige Hilfskräfte“ angesehen zu werden. Das ist nicht nur beleidigend, sondern auch gefährlich. Denn ohne Freiwillige wären vielerorts die Berufsfeuerwehren gar nicht mehr handlungsfähig.

Ehrenamt Feuerwehr

Tatsächlich sind reine Berufsfeuerwehren nur in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern üblich. Zwar sind auch in kleineren Städten und Gemeinden hauptberufliche Feuerwehrleute beschäftigt. Sie werden dort allerdings oftmals für Hintergrundarbeiten eingesetzt, bereiten Lehrgänge vor oder prüfen die technischen Gerätschaften. Zwei Drittel aller Einsätze werden jedoch bundesweit von Freiwilligen durchgeführt. Statistiken des Deutschen Feuerwehrverbandes zufolge standen im Jahr 2018 bundesweit einer Million ehrenamtlicher lediglich 33.000 Berufsfeuerwehrleute zur Seite.

Zeiten ändern sich

Dieses Prinzip funktioniert seit Jahrhunderten – und das erstaunlich gut. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die erwachsenen Männer eines Ortes zum Feuerlöschdienst verpflichtet. Aus dieser Pflichtfeuerwehr formierten sich später Freiwillige Feuerwehren. Neben dem Engagement für die Gemeinschaft mag manchen Freiwilligen auch die Sorge bewegt haben, das eigene Haus könne eines Tages in Flammen aufgehen.

Früher fiel Löschdienst unter Nachbarschaftshilfe

Doch die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Gesellschaft. Traten Freiwillige früher hauptsächlich der Kameradschaft wegen in die Feuerwehr ein, bieten sich heute zum Knüpfen sozialer Kontakte auch viele alternative und weniger verpflichtende Freizeitmöglichkeiten an. Ist ein solches Ehrenamt darüber hinaus mit gesundheitlichen Gefahren und psychischen Belastungen verbunden, schwindet die Bereitschaft, sich für die Gesellschaft zu engagieren.

Kollision von Ehrenamt und Lebensplan

Die Freiwillige Feuerwehr passt in der modernen Gesellschaft oft nicht mehr in den eigenen Lebensplan. Junge Menschen ziehen nach der Schulzeit häufig vom Land in die Stadt und bilden sich auch nach Feierabend weiter. Die langfristige Bindung an eine ehrenamtliche Aufgabe und eine Organisation stößt sowohl bei der Karriere- als auch der Familienplanung auf Widerstand, bisweilen auch auf Unverständnis.

Der Aktionsradius wächst

Abseits dieser Hürden besteht jedoch noch ein weitaus größeres Problem. Stützte sich das ortsgebundene, vorindustrielle System der Freiwilligen Feuerwehren noch auf einzelne Dörfer, sind weite Teile Deutschlands inzwischen urban strukturiert. Aus den einstmaligen Dörfern wurden Vorstädte, Kommunen oder Landkreise mit Industriegebieten und Wohnvierteln im Grünen.

Zeit- und anderer Druck

Freiwillige Feuerwehrleute arbeiten heute im Hauptberuf nicht mehr als Hufschmied vor Ort, sondern viele Kilometer entfernt in Großunternehmen, im Handel oder der Industrie. Meist benötigen sie viel Zeit, um ihre heimischen Feuerwachen im Fall eines Notrufs zu erreichen. Mehr Zeit jedenfalls als die zehn Minuten, innerhalb derer das erste Löschfahrzeug am Einsatzort sein sollte.

Ehrenamt und Job vertragen sich nicht immer

Und auch das funktioniert nur, wenn die Arbeitgeber ihre Mitarbeiter für Einsätze und Ausbildungen von der Arbeit freistellen. Gesetzlich sind sie hierzu zwar verpflichtet und erhalten von der Gemeinde eine Entschädigung in Form eines Kostenersatzes. Dennoch üben viele Arbeitgeber Druck auf diejenigen Mitarbeiter aus, die sich auch während ihrer Arbeitszeit ehrenamtlich für die Gemeinschaft engagieren, weil ihnen dies ein Bedürfnis ist.

Die aktive Mitgliedschaft bei der Freiwilligen Feuerwehr ist daher nicht selten mit Angst vor Repressalien bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes verbunden.

Kooperationen bieten Vor- und Nachteile

In vielen örtlichen Feuerwachen kann die Tagesalarmsicherheit kaum noch gewährleistet werden, weil die für einen Einsatz erforderliche, personelle Mindestbesetzung nicht mehr in der vorgeschriebenen Zeit vor Ort sein kann.

Ungeliebte Fusionen

Kooperationen benachbarter Feuerwehren und Ausrückegemeinschaften sorgen nur teilweise für Abhilfe. Vielerorts müssen Wachen geschlossen werden, sind Umstrukturierungen und Fusionen unumgänglich. Sie bündeln nicht nur vorhandene Kräfte, sondern vereinfachen auch die verwaltungstechnischen Prozesse durch Zentralisierung.

Durch zu große Entfernungen ist die Tagesalarmsicherheit gefährdet

Reduziert man die Anzahl der Ortsfeuerwehren, verlängert man jedoch abermals die Anfahrtswege und gefährdet obendrein den Nachwuchs. Zwar erfreuen sich die Jugendfeuerwehren noch immer eines gewissen Zuspruchs. Die Eltern der jungen Feuerwehrleute legen jedoch schon mal ihr Veto ein, wenn der Anfahrtsweg zum Verteiler mit dem Fahrrad zu riskant erscheint oder der Standort 20 km entfernt liegt und die ganze Familie zu Fahrdiensten herangezogen wird.

Im Alter durchs Feuer gehen?

Um dem Mitgliederschwund etwas entgegenzusetzen, wurde die Altersgrenze für ehrenamtliche Feuerwehrangehörige in einzelnen Bundesländern von 63 Jahren bis zur Vollendung des 67. Lebensjahres angehoben. Auch versucht man Einwohner, die beispielsweise nach ihrem Studium oder ihrer Ausbildung zurück in ihre Heimatorte zogen und über eine feuerwehrspezifische Ausbildung verfügen, dazu zu überreden, wieder in die Wehr einzutreten.

Aufbruch in die Moderne

Längst ist den Planungsverantwortlichen klar, dass das örtliche Feuerwehrfest oder der Tag der Offenen Tür nicht mehr ausreichen, um neue Kameraden zu gewinnen. Oder eben Kameradinnen, denn der Frauenanteil bei der Freiwilligen Feuerwehr liegt allen männlichen Vorbehalten zum Trotz mittlerweile bei rund 10 % – Tendenz steigend. Eine erfreuliche Entwicklung auch deshalb, weil Feuerwehr lange Zeit ausschließlich mit Männern assoziiert wurde.

Erfreulich: Immer mehr Kameradinnen engagieren sich in der Feuerwehr

Zwar werden die Kameradinnen mancherorts noch immer öfter im Servicebereich oder der Jugendarbeit als in vorderster Linie in den so genannten Angriffstrupps eingesetzt. Aber ihre Akzeptanz unter den männlichen Kollegen wächst und auch Führungspositionen werden inzwischen oft von Frauen bekleidet.

Die Vorbildfunktion wirkt: Viele Jugendfeuerwehren verzeichnen bereits einen Mädchenanteil von 20 %. Frischer Wind für die Zukunft der Feuerwehren – auch wenn viele Aktive diesem Wandel noch skeptisch gegenüberstehen. Doch auch sie sehen ein, dass sich mit alleiniger Unterstützung durch Senioren weder die Tages- noch die Nachtalarmsicherheit dauerhaft gewährleisten lässt.

Wenn aus Fremden Retter werden

Jüngste Zielgruppe der Mitgliederwerbung sind Migranten. Mit einem Anteil von 1 % noch stark unterrepräsentiert und lange Zeit ignoriert, entwickeln sie sich innerhalb unserer Gesellschaft zum Hoffnungsträger. In vielen Bereichen der Grundversorgung sind Menschen mit Einwanderungsgeschichte bereits unentbehrlich geworden. Vielleicht auch bald in der Feuerwehr?

Wem geholfen wurde, der hilft auch gerne mal

Viele Migranten sind gut ausgebildet und verfügen – leider auch aufgrund nicht anerkannter Berufsabschlüsse, ohne die die Aufnahme einer Werktätigkeit erschwert wird – über zeitliche Ressourcen, an Einsätzen teilzunehmen. Oftmals wurde ihnen auf ihrem Weg nach und in Deutschland Hilfe zuteil, die sie gerne erwidern würden. Zum Beispiel durch ehrenamtliches Engagement bei der Feuerwehr.

Back to the roots

Dies untergräbt übrigens keineswegs Traditionen. Ein großes Plus der Feuerwehren lag ja stets in deren Vielschichtigkeit. Ob Anwalt oder Automechaniker, Imker oder Ingenieur: Bei der Feuerwehr waren immer viele Gesellschaftsschichten und Berufe vertreten. Gerade in Notsituationen verschwimmen eben Klassenunterschiede zugunsten eines gemeinsamen Ziels. Und den zu rettenden Personen ist letztlich egal, wer sie aus dem Wrack ihres Fahrzeugs befreit oder die eigene Familie vor dem Feuer oder der Flut rettet.

Anreize: Nett sein hilft bei Mitgliedergewinnung und -erhalt

Grundsätzlich ist die Aufstellung einer Feuerwehr eine Pflichtaufgabe der Gemeinden. Daher werden die Stimmen derer lauter, die Anreize aus der Politik zur Gewinnung neuer Mitglieder fordern. So könnte die ehrenamtliche Tätigkeit bei der Feuerwehr – ähnlich wie Erziehungszeit bei Eltern – bei der Rentenberechnung berücksichtigt oder eine kleine Zusatzrente aus öffentlichen Quellen finanziert werden.

Auch kleine Gesten zählen

Bereits Zeichen des guten Willens könnten Respekt und Interesse gegenüber der wichtigen, gefährlichen und oft ehrenamtlichen Arbeit der Feuerwehr bekunden. So könnten die Gemeinden ihren Feuerwehrleuten freien Eintritt ins örtliche Schwimmbad gewähren: Sympathisch, billiger als ein Präsentkorb und überdies ein Beitrag zur Erhaltung der Fitness und Einsatzfähigkeit.

In aller Bescheidenheit

Auch der Vorschlag einer kostenlosen Nutzung des Öffentlichen Nahverkehrs durch Mitglieder der Feuerwehr wäre eine nette und in den Augen der Ideengeber praktische Geste: So sei sichergestellt, dass die Kameraden zur Wache oder zum Übungsdienst gelangen. Ob Letzteres praktikabel ist, sei dahingestellt. Es spricht jedoch Bände, wenn solche Argumente als Verstärker des Wunsches nach Anerkennung für gemeinnützige Arbeit verwendet werden.

Freier Eintritt ins Freibad für Feuerwehrleute? Warum eigentlich nicht?

Für Lösungsansätze und den Dialog mit den Feuerwehren sollte die Politik – in diesem Fall die jeweilige Gemeinde – jedenfalls offener sein als in der Vergangenheit. Da wurden bedarfsplanerische Analysen in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse den Betroffenen nie mitgeteilt wurden. Oder Standorte zusammengelegt, ohne sie im Vorfeld miteinzubeziehen. Selbst altgediente Feuerwehrleute und Führungskräfte fühlen sich da schon mal übergangen und respektlos behandelt – und quittieren frustriert den Dienst. Guter Wille hat eben auch Grenzen.

Brände, Hochwasser und andere Katastrophen: Die täglichen Belastungen der Feuerwehr

Der Dienst fordert Feuerwehrleuten ohnehin einiges ab: Verfügbarkeit quasi rund um die Uhr und übers ganze Jahr neben Job und Familie. Körperliche und seelische Belastungen. Verantwortung für Opfer und Kameraden. Ein ganzer Gefahrenkatalog aus Bränden, Gefahrstoffen, einstürzenden Gebäuden, Sturm, Hochwasser und vielem mehr. Dazu Stress, Beschimpfungen und auch schon mal Gewalt.

Wir alle brauchen die Feuerwehren. Wenn die Gemeinden mit deren Aufstellung überfordert sind, müssen irgendwann Kreis- und Landesverwaltung als nächste Instanz entscheiden, wie es weitergeht. Die Zukunft könnte dann vielerorts in reinen Pflichtfeuerwehren bestehen. Ob diese die Organisation vereinfachen, bleibt offen. Günstiger als die ehrenamtliche Lösung sind sie jedenfalls nicht.

Der Flirt mit der Autokratie

Vor kurzem versuchte sich der SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert an einer Erklärung für die Tatsache, dass ein großer Teil der Ostdeutschen Sanktionen gegen Russland als politisches Durckmittel im Ukraine-Konflikt ablehnt. Er widersprach dabei der nahe liegenden Vermutung, die ostdeutsche Bevölkerung sei pro-russisch eingestellt oder billige zumindest den Einmarsch in der Ukraine.

Um die Ostdeutschen in diesem Punkt verstehen zu können, müsse man statt eines politisch-ideologischen vielmehr einen wirtschaftlichen Ansatz wählen, so Kühnert. Noch immer verdienten Ostdeutsche weniger als ihre West-Kollegen, sei das Lohnniveau niedriger und die Geringverdiener- und Arbeitslosenquote höher. Dadurch bedingt, träfe die infolge der Sanktionen auftretende Energiekrise diese Menschen härter als manchen Westdeutschen.

Ein interessanter Ansatz, der allerdings auch auf westdeutsche Geringverdiener, Arbeitssuchende und Hartz-IV-Bezieher anwendbar ist. Sie treffen die Teuerungen sogar noch schlimmer, ist doch das Mietniveau deutlich höher als in den meisten Regionen Ostdeutschlands.

Nicht nur der Standpunkt in der Russland-Frage unterscheidet West und Ost. Immer noch gibt es eine imaginäre Trennlinie. So war im Westen beispielsweise Rechtsradikalismus immer präsent – nie aber in der Breite, in der er sich im Osten zeigt.

Als Gradmesser des Rechtsrucks gelten gemeinhin die Wahlergebnisse der AfD. Wurde diese in ihrer Anfangszeit noch von vielen Bürgern als echte Alternative zu den Volksparteien gesehen, hat sie sich inzwischen klar nach rechtsaußen ausgerichtet. Aus Versehen wählt heute niemand mehr die AfD.

In Westdeutschland stagnieren ihre Werte im einstelligen Bereich, im Osten erringt die AfD bis zu 27% der Stimmen. Ob aus Protest oder Überzeugung: Mehr als jeder vierte Wahlberechtigte entscheidet sich dort für den Populismus.

Nationalistische Bewegungen – ja, auch im Westen existent – organisieren regelmäßig Kundgebungen und „Protestmärsche“. Ganz legal, weil angemeldet. So lange die Corona-Bestimmungen halbwegs eingehalten werden und der Hitlergruß unterbleibt, drückt die örtliche Polizei beide Augen zu.

Auch deshalb, weil die „Rechten“ oftmals von Normalbürgern begleitet werden. Wie bei Pegida. Wie bei den Querdenker-Demos. Wenn man sich fragt, wie man den rechtsradikalen Strömungen beikommen kann, muss daher auch die Frage gestellt werden, weshalb sich so viele ach so brave Bürger von ihnen instrumentalisieren lassen.

Wird ein Migrant von Neonazis in der S-Bahn angepöbelt und schauen diese Bürger weg, macht sie das vielleicht zum Feigling, aber noch nicht zum Befürworter der Aktion. Doch längst geht es nicht mehr um Wegschauen. Wer aktiv an einer offensichtlich von rechtsradikalen Gruppierungen ausgerichteten oder vereinnahmten Demo teilnimmt, macht sich mitschuldig an den Folgen.

Es sind nämlich diese Bürger, die dem Angriff gegen die Rechtsstaatlichkeit erst ein bürgerliches Gesicht geben. Bürger bürgen – in dem Fall für  verfassungsfeindliche Kräfte in ihrem Land. Und da auch ihr Prozentsatz deutlich höher liegt als im Westen, müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, der Osten habe offensichtlich ein Problem mit der Demokratie.

Ja, es sind Angriffe auf die Demokratie, auch wenn viele genau das Gegenteil hineininterpretieren möchten. Zum Teil ist von Emanzipation die Rede, davon, dass der Osten sich durch diese Kundgebungen Gehör verschaffe, weil man von seinen Problemen im Westen nichts wissen wolle.

Eines dieser Probleme liegt wie erwähnt im niedrigen Lohnniveau. Damit es steigen kann, müssten sich mehr Unternehmen im chronisch strukturschwachen Ostdeutschland niederlassen. An dieser Stelle ist vielen Menschen nicht klar, dass die rechtsnationalistische und teilweise -radikale Gesinnung vieler Ostdeutscher auf Investoren nicht gerade attraktiv wirkt.

Insbesondere global operierende Unternehmen können ihrer internationalen Belegschaft in manchen Landsstrichen weder Sicherheit noch ein angenehmes Lebensumfeld bieten. Wenn dort selbst Politiker von einem aufgebrachten Mob zu Hause bedrängt werden, wie soll man sich dort jemals wohlfühlen?

Fakt ist: Der Osten bemüht sich nicht in ausreichendem Maße um eine Verbesserung seines Images. Im Gegenteil, man sägt im Verbund mit Neonazis genüßlich die eigenen Stuhlbeine durch. Weil man sich alleingelassen fühlt vom Staat. Weil es denen da drüben immer noch besser geht. Weil die da oben sowieso immer gewinnen. Weil früher alles besser war.

Früher? Zu DDR-Zeiten etwa? Als man den Westen mit seinen ganzen Neonazis verteufelte? Dieselben, die man nun nach der Corona-Demo noch zu einem Bier in die Laube einlädt? Was stimmt hier nicht in diesem Gedankengang?

In ihrem Frust über die eigene Bedeutungslosigkeit wittern viele Bundesbürger Verrat und Vetternwirtschaft. Ob Masken- oder Maut-Skandale: Überall machen sich andere die Taschen voll auf Kosten der Allgemeinheit. Andere heißt in dem Fall: Wessis.

Nicht jeder Ostdeutsche sympathisiert mit nationalistischen Bewegungen. Viele stemmen sich sogar mit aller Macht dagegen, leisten Überzeugungsarbeit, beschwören, verteidigen die Demokratie. Aber das gestaltet sich zunehmend schwerer, wenn nicht nur der radikalisierte Bruder, sondern auch die eigenen Eltern kein Problem mehr damit haben, zu AfD-Veranstaltungen zu gehen, sich für ein Selfie mit Bernd Höcke ablichten zu lassen oder gar als Aushängeschild der Rentner-Generation zu fungieren.

Hinzu kommen eine gewisse Grundstimmung und vor allem eine breitflächige Akzeptanz von Nationalismus in öffentlichen Debatten. Wenn ein großer Teil der Bevölkerung radikale Tendenzen akzeptiert oder gar fördert, werden Außenseiter zu Bestimmern. Ist „Ausländer raus“ wieder salonfähig.

Hierin liegt wohl der große Unterschied zwischen West und Ost. Nationalistische Gruppierungen im Westen operieren oftmals im Verborgenen, während sie im Osten ganz unverhohlen ganze Gemeinden beherrschen. Kein Wunder, stimmt doch mindestens jeder vierte Einwohner mit ihrer ideologischen Ausrichtung überein.

Von politischen Zielen weit entfernt, – außer Flüchtlingspolitik und Corona-Maßnahmen interessiert offenbar nichts -, verliert man sich in aggressivem Selbstmitleid. Hab ja keine Arbeit, hier gibt’s ja nix. Ja klar. Warum auch? Weil ihr so weltoffene, rücksichtsvolle und tolerante Menschen seid?

Natürlich hat die Bundespolitik Fehler gemacht. Der Osten hätte nicht nur finanzielle Hilfen und das Anlocken von Investoren gebraucht, sondern auch einen besseren Anschluss an Westdeutschland. Zu sehr verließ man sich darauf, dass die Menschen in Ostdeutschland nach den vermeintlich lähmenden und eingeschränkten DDR-Zeiten begeistert die westliche Lebensweise und deren Freiheiten übernehmen würden.

Die politische Bildung in Schulen wurde vernachlässigt und über rechte Strömungen bei Polizei und Sicherheitsbehörden hinweggesehen. Ein Prozess, der noch immer andauert. Dabei zählen die sozialen Probleme ebenso zum Alltag wie die Angriffe auf die Demokratie.

Wo solche Stimmung herrscht, flüchten diejenigen, die anders denken. Gerade junge Intellektuelle verlassen Ostdeutschland, sobald sie das Geld für eine Fahrkarte zusammengespart haben. Zurück bleiben die älteren Generationen, die das alles früher irgendwie besser fanden, weil da wenigstens die ganze Familie zusammen war.

Es bleiben die Nationalisten, die sich ein halbes Land als Spielwiese erobert haben und den Platz der Weggezogenen einnehmen. Mit deren Eltern Kaffee trinken und ihnen erklären, dass ihre Kinder wegen all der Ausländer oder der Bundespolitik in die Stadt gezogen seien.

Und es bleiben die Jüngsten. Die in einer Atmosphäre des Dünkels und der Ressentiments aufwachsen. Sich an den gesellschaftlichen und politischen Strömungen orientieren, die am lautesten auf sich aufmerksam machen. Denen es in einem solchem Umfeld immer schwerer fallen dürfte, tolerant und weltoffen zu bleiben.

Dem sollten wir entgegenwirken. Durch mehr Aufmerksamkeit und wirkende Maßnahmen seitens des Bundes. Vor allem aber durch aktive Gegenwehr im Osten. Denn jeder Bürger hat es zu einem großen Teil auch selbst in der Hand, in welcher Welt seine Kinder groß werden und welches Weltbild sie entwickeln.

Fördern und fordern, so lautet das Grundprinzip hinter staatlichen Sozialleistungen. Es trifft auch auf unsere Gesellschaft zu, in diesem Fall speziell auf Ostdeutschland. Wer soll euch vor demokratiefeindlichen Kräften bewahren, wenn ihr sie okay findet? Wer vor eurer Haustür investieren, wenn er die Atmosphäre als bedrohlich und die politische Lage als instabil empfindet?

Wir alle nehmen Einfluss auf unser Land. So oder so. Wer aus Protest den Rechtsstaat abwählt, entscheidet sich aktiv gegen all das, was ihn beschützt. Und sucht nach neuen starken Armen, die diese Funktion erfüllen. Was liegt da näher, als diejenigen zu wählen, die am lautesten schreien und ihrem Unmut auch schon mal durch allzu markige Worte und Gewalt Luft verschaffen?

Einer Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 2019 zufolge befürworten nur noch 42 Prozent der Ostdeutschen die Demokratie in ihrer jetzigen Form. Das ist deutlich. Eine andere Studie ergab, dass jeder fünfte ostdeutsche Jugendliche sich einen autokratischen Staat wünsche. Muss uns da wirklich verwundern, dass Putin im Osten besser ankommt als im Westen?

Bekanntermaßen zieht sich der gegenwärtige Rechtsruck durch ganz Europa. Die gemäßigte Politik duldete und verharmloste lange Zeit verfassungsfeindliche Tendenzen. Zu denen auch die Querdenker-Bewegung gezählt werden darf, auch wenn sie nicht per se rechtsradikal ausgerichtet war. In ihrem Bestreben, den Staat und seine Corona-Maßnahmen zu diskreditieren, war ihr aber jedes Mittel  – ja, genau – recht.

Verfassungsfeindliche Gruppierungen durften unverhohlen die Demokratie verhöhnen und deren Abschaffung fordern. Die rechtsextreme Partei „III. Weg“ forderte auf Wahlplakaten „Hängt die Grünen!“, was die Staatsanwaltschaft Zwickau als eine Art künstlerische Freiheit in Sachen Wahlslogans interpretierte. Wie cool, wie locker.

Nein. Lediglich naiv. Denn vielerorts blühen Fremdenhass und Gewaltbereitschaft, Andersdenkende werden verbal und auch körperlich attackiert. Während sich die Politik an gendergerechter Sprache, Integration und Gleichstellung abmüht, sieht sie dabei zu, wie ein Teil der Bevölkerung sich abspaltet und einen Staat im Staat zu gründen versucht.

Klare Kante wäre nun gefordert. Nein, eigentlich schon lange. Doch die ist nicht unsere Stärke. Viel zu viele Missstände haben sich aufgetürmt, – von Renten- und Arbeitslosenreform über Pflegenotstand bis hin zu Technologie und Klimaschutz -, viele kamen hinzu, Stichwort: Maut und Maskendeals.

Dass Kanzler Olaf Scholz chronisch überfordert scheint und den Eindruck erweckt, sich nicht einmal beim Belag seines Pausenbrotes klar entscheiden zu können, macht die Sache nicht besser. Aber vielleicht haben wir es auch nicht anders verdient. Die Alternative sind Hardliner wie Söder und Merz. Kleine Regenten mit autokratischen Zügen. Viele Deutsche wünschen sich inzwischen eine harte Hand statt Kuschelkurs.

Womit sich der Kreis schließt. Vielleicht, so denken wohl manche Deutsche, ist eine Autokratie ja gar nicht so verkehrt. Man weiß genau, was man sagen darf und was nicht. Es gibt eng gesteckte Regeln und wenig Freiheit, aber dafür muss man nicht so viel nachdenken und immer andere in die eigenen Überlegungen miteinbeziehen.

Ein bisschen DDR also. Nach dem Motto: Lieber 9 qm Rasen ganz für mich als ein vereintes Europa. Oder zumindest ein vereintes Deutschland. Womöglich auch noch mit Integration und Toleranz. Das würde doch … na ja, irgendwas würde das ganz sicher Tür und Tor öffnen. Nein, lieber nicht.

 

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