Keine Angst vorm EuGH

Für manche ist sie im Lauf der Jahre zum Freund geworden, andere fremdeln noch heute mit ihr: Die Vertrauensarbeitszeit. Seit 2019 sorgt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg (EuGH) für Wirbel und die Wiedereinführung der generellen Arbeitszeiterfassung – wenn auch unter veränderten Vorzeichen.

Stein des Anstoßes: Der Europäische Gerichtshof definierte, dass die EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet seien, eine Rechtsgrundlage zur generellen Arbeitszeiterfassung zu schaffen. So ist es beispielsweise in Deutschland nicht zwingend notwendig, geleistete Arbeitszeit zu erfassen. Lediglich Überstunden – also Zeit, die über die täglich übliche Arbeitszeit hinausgeht – müssen dokumentiert werden.

Wie weise ich Überstunden nach?

In der Urteilsbegründung des EuGH wurde die Frage aufgeworfen, wie man eigentlich Überstunden berechnen wolle, wenn die Arbeitszeit generell nicht erfasst oder definiert werde. Kurzum: Wer seine geleisteten Stunden nicht notiere, könne auch nicht nachweisen, dass er Überstunden geleistet hat. So weit, so schlüssig.

Vieles wurde nach dem so genannten „Stechuhr-Urteil“ geschrieben. Der nachfolgende Beitrag informiert Sie nochmals über den dem Urteil zugrunde liegenden Rechtsstreit, den Ist- und Soll-Zustand der Vertrauensarbeitszeit sowie die Auswirkungen des Urteils für die EU-Staaten.

Das EuGH-Urteil im Jahr 2023: Ein Gespenst geht um

Zwei Punkte vorweg: Panik ist nicht angebracht. Es liegt zwar in der Natur juristischer Entscheidungen, dass diese je nach Standpunkt polarisiert, interpretiert und kommentiert werden. Ohne Meinungsverschiedenheiten käme es schließlich gar nicht erst zu den Streitigkeiten, welche ein richterliches Urteil erfordern. Bei aller Interpretationsfreiheit ist die von einigen empfundene Angst vor einer Reaktivierung der veralteten und im Keller verstaubenden Stechuhren jedoch unangebracht.

Das Ende der Vertrauensarbeitszeit?

Auch bedeutet das EuGH-Urteil keine generelle Abkehr von der Vertrauensarbeitszeit. Vielmehr offenbart es, wie unterschiedlich das ihr zugrunde liegende Konzept bislang aufgefasst wurde. Denn das Vertrauen  eines Arbeitgebers in seinen Mitarbeiter, Aufgaben innerhalb seiner Arbeitszeit mit Elan und Sorgfalt nachzugehen, wird durch deren Dokumentation ja nicht diskreditiert. Und niemand wird dem Arbeitgeber später vorschreiben, diese Aufzeichnung einzusehen. Das Vertrauen bleibt also. Wenn es denn vorhanden war.

„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“

Solche und ähnliche Argumente von Kritikern begleiteten seinerzeit die Einführung der Vertrauensarbeitszeit und den Abschied von antiquierten Stechkartensystemen. Dabei erwies sich die Befürchtung mancher als unbegründet, die vertraglich vereinbarten Arbeitszeiten würden unterschritten, sobald sie nicht mehr dokumentiert werden. Im Gegenteil: Die Zahl der geleisteten Mehrarbeitsstunden stieg nach Abschaffung starrer Arbeitszeiten sogar an. Deutschlandweit lag sie im vergangenen Jahr laut Auskunft der Bundesregierung bei über 2 Milliarden Stunden.

Die Ursprünge

Ursprünglich hatte die Vertrauensarbeitszeit neben einer Senkung der Personalkosten zum Ziel, den Anforderungen einer modernen Welt Rechnung zu tragen, die eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie erfordert. Die Flexibilität sollte erhöht, die Eigenverantwortung – und damit die Motivation – der Arbeitnehmer gesteigert werden.

Deren Arbeitgeber schenkten ihnen das Vertrauen, ihre vertraglich vereinbarten Arbeits- und Ruhezeiten auch ohne kontrollierende Instanzen einzuhalten und sich im Rahmen dieser Vorgaben selbst zu organisieren. Mehrarbeit sollte nicht mehr für Extra-Urlaubstage angehäuft, sondern in kleinem Umfang mit einem Zeitausgleich kompensiert werden.

In Deutschland musste bislang denn auch nur die Arbeitszeit dokumentiert werden, welche über die Regelarbeitszeit von 8 Stunden täglich hinaus geleistet wurde. Diese Praxis ist laut des Urteils des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg (EuGH) jedoch unwirksam. Wie, so die Ausgangsfrage des Urteils, soll man Mehrarbeit erfassen, wenn weder die reguläre Arbeitszeit von maximal 48 Stunden pro Woche noch Ruhezeiten von täglich mindestens 11 Stunden dokumentiert werden? Es sei daher erforderlich, Arbeitszeiten innerhalb der EU künftig exakt zu erfassen.

Er war’s! Sie war’s!

Grundlage des Urteils war ein Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und einer spanischen Tochterniederlassung der Deutschen Bank.

Der Arbeitnehmer berief sich auf die EU-Richtlinie 2003/88 EG, welche nicht nur unter anderem Ruhe- und Pausenzeiten, sondern auch die Einhaltung der damit verbundenen Schutzvorschriften regelt. Ursprünglich vor der Audiencia Nacional verhandelt (dem Nationalen Spanischen Gerichtshof), wurde die Streitsache von dieser schließlich dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt.

Gegen die Selbstausbeutung

In dessen Urteilsbegründung taucht nirgendwo das Wort „Stechuhr“ auf. Es wird auch kein anderes Instrument zur Arbeitszeiterfassung benannt. Das liegt daran, dass das EuGH solche Vorgaben überhaupt nicht machen wollte. Beim Urteil ging es lediglich um die Frage, wie der Arbeitgeber eigentlich dafür sorgen könne, den Mitarbeiter vor Überlastung und Selbstausbeutung zu schützen, wenn er ihm keine Möglichkeit eröffne, seine Arbeitszeit zu dokumentieren und sein Stundenkonto im Auge zu behalten.

Noch hat das Urteil keine konkreten Auswirkungen für Unternehmen. Denn der Europäische Gerichtshof stellt es jedem EU-Staat frei, wie er dieses national umsetzt. Unabhängig davon sei die Einhaltung und Dokumentation von Höchstarbeitszeitgrenzen und Ruhezeiten jedoch ein Grundrecht von Arbeitnehmern innerhalb der EU, welches es zu wahren gilt.

Aha. Und wie sieht das in der Praxis aus?

Für die EU-Mitgliedsstaaten bedeutet dies nicht nur, nationale Gesetzesentwürfe für die Erfassung von Arbeitszeiten diverser Branchen vorzulegen, sondern auch Ausnahmeregelungen (z.B. für Kleinstbetriebe) zu schaffen und Berufe zu berücksichtigen, deren Arbeitszeit generell schwer zu dokumentieren ist. Auch Home-Office wird besondere Berücksichtigung finden.

Jeder Arbeitsschritt wird zeitlich erfasst

Selbst für die mit künftigen Gesetzesvorlagen konfrontierten Politiker beginnt der Arbeitstag bereits vorm Frühstück mit E-Mails und der Lektüre diverser Tageszeitungen. Journalisten sind zu jeder Zeit auf der Suche nach Stories, und vielen kreativen Freiberuflern, Beratern oder Dozenten sind geregelte Arbeitszeiten ohnehin fremd. Dem EuGH-Urteil zufolge müsste künftig jede Recherche, jedes Telefonat und das Checken von beruflichen E-Mails im Zug zeitlich erfasst werden.

Was sagt die Politik dazu?

Apropos Politiker. Die deutsche Regierungskoalition zeigte sich schon damals in ihrer Meinung über das Urteil des Europäischen Gerichtshofes gespalten.

Während Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) eine umfassende Arbeitszeiterfassung als notwendig begrüßte, um die Rechte der Beschäftigten zu sichern, wollte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) zunächst noch ein Rechtsgutachten in Auftrag geben, um die Frage nach einem konkreten Umsetzungsbedarf zu klären. Je nach Ergebnis des Rechtsgutachtens sollte ein Vorlageverfahren angestrengt werden. Das Ergebnis des Gutachtens liegt leider noch immer nicht vor.

Ja oder Nein

Übrigens ist die Arbeitszeiterfassung in vielen Branchen längst üblich. So würden beispielsweise Krankenhäuser oder Rettungsdienste ohne eine exakte Regelung der Dienstzeiten nicht funktionieren. Ferner bestehen umfängliche Aufzeichnungspflichten im Gaststätten- und Hotel-, Bau-, Speditions- und Transportgewerbe sowie in vom gesetzlichen Mindestlohn betroffenen Betrieben.

Darüber hinaus können nach derzeitiger Rechtslage deutsche Aufsichtsbehörden auch ohne EuGH-Beschlüsse bereits eine so genannte „Total-Aufzeichnung“ in Betrieben anordnen, welche die arbeitsschutzrechtlichen Bedingungen nicht oder nur unzureichend einhalten.

Die Rückkehr der Stechuhr?

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) äußert Kritik an dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes. „Wir Arbeitgeber sind gegen die generelle Wiedereinführung der Stechuhr im 21. Jahrhundert“, heißt es in einer Stellungnahme. „Auf die Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 kann man nicht mit einer Arbeitszeiterfassung 1.0 reagieren.“ Vereinzelt macht gar der Begriff „Rückfall in die Steinzeit“ die Runde.

Das Ende der Flatrate

Dem gegenüber begrüßt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) das EuGH-Urteil als Grundlage für eine faire Dokumentation auch jener Tätigkeiten, welche bislang nebenbei in der Freizeit erledigt und somit nicht als Arbeitszeit bewusst wahrgenommen wurden. So werde der „Flatrate-Arbeit“ ein Riegel vorgeschoben, wie Annelie Buntenbach, Mitglied im Bundesvorstand des DGB, betonte: „Statt mit der Stechuhr könnte man heutzutage schließlich per Smartphone und App die Arbeitszeit dokumentieren.“

Wie machen das andere Länder mit der Zeiterfassung?

Werfen wir doch mal einen Blick hinüber zu unseren EU-Nachbarn. In Italien oder Österreich ist eine generelle Arbeitszeiterfassung verpflichtend. Der französische Gesetzgeber schreibt diese zumindest für jene Arbeitsverhältnisse vor, die keinem horaire collectif (=kollektiver Schichtplan) unterliegen.

Es bedarf jedoch keiner Stechuhr, um in der Arbeitswelt 4.0 die Einhaltung dieser gesetzlichen Bestimmungen zu gewährleisten. Im österreichischen Arbeitszeitgesetz (AZG) heißt es: „Der Arbeitgeber hat zur Überwachung der Einhaltung der in diesem Bundesgesetz geregelten Angelegenheiten in der Betriebsstätte Aufzeichnungen über die geleisteten Arbeitsstunden zu führen.“

Stechuhr? Pustekuchen!

Um diese Anforderung zu erfüllen, erfassen die Mitarbeiter Ihre Arbeitszeiten selbst mit Hilfe von Apps oder Tools. So haben Sie ihre Zeiten im Blick und für den Fall eines Rechtsstreits oder einer Überprüfung durch Aufsichtsbehörden jederzeit parat. Darunter leidet aber weder ihre Selbstorganisation noch das Vertrauensverhältnis zu ihren Arbeitgebern. Auch dies ist Arbeitswelt 4.0.

Doch was bedeutet das EuGH-Urteil nun für deutsche Betriebe? „Mach’s gut, Vertrauen?“

Nein. Denn die Erfassung geleisteter Arbeitszeiten kollidiert nicht mit dem der Vertrauensarbeitszeit zugrunde liegenden Gedanken der Eigenverantwortung und Flexibilität. Durch Dokumentierung ihrer Arbeitszeiten geben die Arbeitnehmer ihre Souveränität ja keineswegs preis. Möglicherweise steigert der bessere Überblick über ihre tatsächlich geleisteten Zeiten sogar ihre Lebensqualität durch weniger Mehrarbeitsstunden. Und somit die von Arbeitgebern gewünschte Motivation.

Vertrauen und Wertschätzung

Das Vertrauen eines Arbeitgebers in seinen Mitarbeiter hängt nicht von europäischen oder nationalen Urteilen ab, sondern von der Wertschätzung, mit der beide einander begegnen. Diese wird wie erwähnt nicht dadurch untergraben, dass die bislang „gemerkten“ Arbeitszeiten künftig genau erfasst werden. Vielmehr schafft man mit diesem Instrument eine für beide Seiten verlässliche Rechtssicherheit.

Eine positive Einstellung

Insofern kommt der Abgesang auf die Vertrauensarbeitszeit also verfrüht. Sicher, das Dokumentieren von Arbeitszeiten bringt Kosten und Verwaltungsaufwand mit sich. Doch dank moderner Zeiterfassungssysteme dürfte sich beides in Grenzen halten. Und vielleicht in Zukunft teure Rechtsstreits wie denjenigen vermeiden, welcher dem EuGH-Urteil zugrunde lag.

So bedeutet das Urteil aus Luxemburg also keine Diskreditierung, sondern je nach Sichtweise sogar eine Aufwertung der Vertrauensarbeitszeit. Demnach sollte es nicht heißen: „Mach’s gut!“ Sondern vielmehr: „Machen wir’s künftig besser.“

Potzblitz, eine generelle Zeiterfassung?!? (Teil 1)

Faustdicke Überraschung?

Ein Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in Erfurt erhitzt derzeit die Gemüter. Genauer: Dessen Urteilsbegründung. Sie erinnert daran, dass die Frage nach der Umsetzung einer generellen Arbeitszeiterfassung in Deutschland noch immer unbeantwortet ist, obwohl laut Ansicht des BAG seit Jahren hierzu eine Verpflichtung besteht.

In den aktuellen Beiträgen renommierter Fachblätter zum Urteil 1 ABR 22/21 des Bundesarbeitsgerichts werden immergleiche, markige Ausrufe wie „Ein Paukenschlag!“, „Ein Meilenstein!“ oder „Eine faustdicke Überraschung“ von Arbeitsrechtsexpert:innen und Arbeitgebervertreter:innen zitiert.

Ein Armutszeugnis für den seriösen Journalismus

Ein Zeichen dafür, wie wenig Mühe sich Vertreter:innen des aufklärenden Journalismus mittlerweile bei der Recherche und Aufbereitung komplexer Sachverhalte für die Leser:innen machen. Abschreiben ist offenbar nicht nur salonfähig geworden, sondern gilt als neuer, investigativer Weg.

Steffen Kampeter, der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), wird ebenfalls oft erwähnt, als habe er Aussagen getroffen, die in Stein gemeißelt gehören. So nennt er das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 2022 „überstürzt und nicht durchdacht“ und folgert: „Damit werden Beschäftigte und Unternehmen ohne gesetzliche Konkretisierung überfordert.“

Worum geht es denn hier eigentlich?

Ironischerweise war eine generelle Arbeitszeiterfassung gar nicht das Thema, sondern bestenfalls der Ausgangspunkt des zugrunde liegenden Rechtsfalls und der Kommentare. Das Bundesarbeitsgericht sollte lediglich darüber entscheiden, ob Betriebsräte ein Initiativrecht bei der Einführung eines Systems der (elektronischen) Arbeitszeiterfassung besitzen, welches arbeitgeberseitig verweigert wurde.

Die Antwort lautet: Nein. In dem Beispielfall wurde der Antrag  durch das BAG abgelehnt – mit der Begründung, dass ein solches Initiativrecht nur dann Anwendung findet, „soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht.“

 

***Ja, und? Was bedeutet das nun? Teil 2 dieses Artikels erläutert es Ihnen.***


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Arbeitszeiterfassung: Das EuGH-Urteil von 2019 (Teil 4)

Aber was bedeutet das EuGH-Urteil nun für deutsche Betriebe? „Mach’s gut, Vertrauen?“

Nein. Die Erfassung geleisteter Arbeitszeiten kollidiert nicht mit dem der Vertrauensarbeitszeit zugrunde liegenden Gedanken der Eigenverantwortung und Flexibilität. Durch Dokumentierung ihrer Arbeitszeiten geben die Arbeitnehmer ihre Souveränität ja keineswegs preis. Möglicherweise steigert der bessere Überblick über ihre tatsächlich geleisteten Zeiten sogar ihre Lebensqualität durch weniger Mehrarbeitsstunden. Und damit die von Arbeitgebern gewünschte Motivation.

Das Vertrauen eines Arbeitgebers in seinen Mitarbeiter hängt ja nicht von europäischen oder nationalen Urteilen ab. Vielmehr von der Wertschätzung, mit der beide einander begegnen. Diese wird wie erwähnt nicht dadurch untergraben, dass die bislang im Kopf notierten Arbeitszeiten in Zukunft genau erfasst werden. Aber man schafft mit diesem Instrument eine für beide Seiten verlässliche Rechtssicherheit.

Daher kommt der Abgesang auf die Vertrauensarbeitszeit verfrüht. Natürlich bringt das Dokumentieren von Arbeitszeiten Kosten und Verwaltungsaufwand mit sich. Aber dank moderner Zeiterfassungssysteme dürfte sich beides in Grenzen halten. Und möglicherweise in Zukunft teure Rechtsstreits wie denjenigen vermeiden, welcher dem EuGH-Urteil zugrunde lag.

So bedeutet das Urteil aus Luxemburg also keine Diskreditierung, sondern je nach Sichtweise sogar eine Aufwertung der Vertrauensarbeitszeit. Demnach sollte es nicht heißen: „Mach’s gut!“ Sondern vielmehr: „Machen wir’s künftig besser.“

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Arbeitszeiterfassung: Das EuGH-Urteil von 2019 (Teil 3)

Die Arbeitszeiterfassung ist in vielen Branchen längst üblich. Ohne eine exakte Regelung der Dienstzeiten  würden beispielsweise Krankenhäuser oder Rettungsdienste nicht funktionieren. Außerdem bestehen umfängliche Aufzeichnungspflichten im Gaststätten-, Hotel-, Bau-, Speditions- und Transportgewerbe sowie in vom gesetzlichen Mindestlohn betroffenen Betrieben.

Nach derzeitiger Rechtslage können deutsche Aufsichtsbehörden auch ohne EuGH-Beschlüsse bereits eine so genannte „Total-Aufzeichnung“ in Betrieben anordnen, welche die arbeitsschutzrechtlichen Bedingungen nicht oder nur unzureichend einhalten.

Die Rückkehr der Stechuhr?

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) äußert Kritik an dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes. „Wir Arbeitgeber sind gegen die generelle Wiedereinführung der Stechuhr im 21. Jahrhundert“, heißt es da in einer Stellungnahme. „Auf die Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 kann man nicht mit einer Arbeitszeiterfassung 1.0 reagieren.“ Vereinzelt macht gar der Begriff „Rückfall in die Steinzeit“ die Runde.

Dem gegenüber begrüßt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) das EuGH-Urteil als Grundlage für eine faire Dokumentation auch solcher Tätigkeiten, die bislang nebenbei in der Freizeit erledigt und somit nicht als Arbeitszeit bewusst wahrgenommen wurden. Der „Flatrate-Arbeit“ werde damit ein Riegel vorgeschoben, wie Annelie Buntenbach, Mitglied im Bundesvorstand des DGB, betonte: „Statt mit der Stechuhr könnte man heutzutage schließlich per Smartphone und App die Arbeitszeit dokumentieren.“

Ein Blick hinüber zu unseren EU-Nachbarn fördert Überraschendes zutage. In Italien oder Österreich ist beispielsweise eine generelle Arbeitszeiterfassung verpflichtend. Der französische Gesetzgeber schreibt sie zumindest für solche Arbeitsverhältnisse vor, die keinem horaire collectif (=kollektiver Schichtplan) unterliegen.

Man braucht jedoch keine Stechuhr, um in der Arbeitswelt 4.0 die Einhaltung dieser gesetzlichen Bestimmungen gewährleisten zu können. Im österreichischen Arbeitszeitgesetz (AZG) heißt es: „Der Arbeitgeber hat zur Überwachung der Einhaltung der in diesem Bundesgesetz geregelten Angelegenheiten in der Betriebsstätte Aufzeichnungen über die geleisteten Arbeitsstunden zu führen.“

Um diese Anforderung zu erfüllen, verzeichnen die Mitarbeiter Ihre Arbeitszeiten selbst mit Hilfe von Apps oder Tools. Ihre Zeiten haben sie immer im Blick und parat – für den Fall eines Rechtsstreits oder einer Überprüfung durch Aufsichtsbehörden. Darunter leidet aber weder ihre Selbstorganisation noch das Vertrauensverhältnis zu ihren Arbeitgebern. Auch dies ist Arbeitswelt 4.0.

 

– Aber was bedeutet das EuGH-Urteil nun für deutsche Betriebe? Geht nun das Vertrauen in die Mitarbeiter verloren?  Teil 4 dieses Beitrags gibt Ihnen Auskunft darüber. –


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Arbeitszeiterfassung: Das EuGH-Urteil von 2019 (Teil 2)

Ein Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und einer spanischen Tochterniederlassung der Deutschen Bank bildete die Grundlage dieses Urteils.

Der Arbeitnehmer berief sich auf die EU-Richtlinie 2003/88 EG, die nicht nur unter anderem Ruhe- und Pausenzeiten, sondern auch die Einhaltung der damit verbundenen Schutzvorschriften regelt. Ursprünglich vor der Audiencia Nacional verhandelt (dem Nationalen Spanischen Gerichtshof), wurde die Streitsache von dieser schließlich dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt.

Derzeit hat das Urteil noch keine konkreten Auswirkungen für Unternehmen. Denn der Europäische Gerichtshof stellt es jedem EU-Staat frei, wie er dieses national umsetzt. Unabhängig davon sei die Einhaltung und Dokumentation von Höchstarbeitszeitgrenzen und Ruhezeiten jedoch ein Grundrecht von Arbeitnehmern innerhalb der EU, welches es zu wahren gelte.

Aha. Und wie sieht das in der Praxis aus?

Für die EU-Mitgliedsstaaten bedeutet dies nicht nur, nationale Gesetzesentwürfe für die Erfassung von Arbeitszeiten verschiedener Branchen vorzulegen, sondern auch Ausnahmeregelungen (z.B. für Kleinstbetriebe) zu schaffen und Berufe zu berücksichtigen, deren Arbeitszeit generell schwer zu dokumentieren ist. Auch Home-Office wird besondere Berücksichtigung finden.

Selbst für die mit künftigen Gesetzesvorlagen konfrontierten Politiker beginnt der Arbeitstag bereits vorm Frühstück mit E-Mails und der Lektüre vieler Tageszeitungen. Journalisten sind zu jeder Zeit auf der Suche nach Stories, und vielen kreativen Freiberuflern, Beratern oder Dozenten sind geregelte Arbeitszeiten ohnehin fremd. Dem EuGH-Urteil zufolge müsste künftig jede Recherche, jedes Telefonat und das Checken von beruflichen E-Mails im Zug zeitlich erfasst werden.

Apropos Politiker. Die deutsche Regierungskoalition aus CDU und SPD zeigte sich in ihrer Meinung über das Urteil des Europäischen Gerichtshofes seinerzeit gespalten.

Während Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) eine umfassende Arbeitszeiterfassung als notwendig begrüßte, um die Rechte der Beschäftigten zu sichern, mochte der damalige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) zunächst noch ein Rechtsgutachten in Auftrag geben, um die Frage nach einem konkreten Umsetzungsbedarf zu klären. Je nach Ergebnis des Rechtsgutachtens sollte ein Vorlageverfahren angestrengt werden.

Vorläufig ist das Thema aufgeschoben. Die designierte neue Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP wird jedoch in absehbarer Zeit zum EuGH-Urteil Stellung beziehen müssen.

 

– Aber gibt es Arbeitszeiterfassung nicht bereits? Und würde ein Akzeptieren des EuGH-Urteils die Rückkehr der Stechuhr bedeuten? Das können Sie in Teil 3 dieses Beitrags nachlesen. –


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Arbeitszeiterfassung: Das EuGH-Urteil von 2019 (Teil 1)

Für manche ist sie im Lauf der Jahre zum Freund geworden, andere fremdeln noch heute mit ihr: Die Vertrauensarbeitszeit. Seit Monaten sorgt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg (EuGH) für Wirbel und die Wiedereinführung der generellen Arbeitszeiterfassung – wenn auch unter veränderten Vorzeichen.

Wir informieren Sie in dem nachfolgenden Beitrag nochmals über den dem Urteil zugrunde liegenden Rechtsstreit, den Ist- und Soll-Zustand der Vertrauensarbeitszeit sowie die Auswirkungen des Urteils für die EU-Staaten.

Ein Gespenst geht um

Zwei Punkte vorweg: Panik ist nicht angebracht. Es liegt zwar in der Natur juristischer Entscheidungen, dass diese je nach Standpunkt polarisiert, interpretiert und kommentiert werden. Ohne Meinungsverschiedenheiten käme es schließlich gar nicht erst zu den Streitigkeiten, welche ein richterliches Urteil erfordern. Bei aller Interpretationsfreiheit ist die von einigen empfundene Angst vor einer Reaktivierung der veralteten und im Keller verstaubenden Stechuhren jedoch unangebracht.

Auch bedeutet das EuGH-Urteil keine generelle Abkehr von der Vertrauensarbeitszeit. Vielmehr offenbart es, wie unterschiedlich das ihr zugrunde liegende Konzept bislang aufgefasst wurde. Denn das Vertrauen  eines Arbeitgebers in seinen Mitarbeiter, Aufgaben innerhalb seiner Arbeitszeit mit Elan und Sorgfalt nachzugehen, wird durch deren Dokumentation ja nicht diskreditiert. Und niemand wird dem Arbeitgeber später vorschreiben, diese Aufzeichnung einzusehen. Das Vertrauen bleibt also. Wenn es denn vorhanden war.

„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“

Solche und ähnliche Argumente von Kritikern begleiteten seinerzeit die Einführung der Vertrauensarbeitszeit und den Abschied von antiquierten Stechkartensystemen. Dabei erwies sich die Befürchtung mancher als unbegründet, die vertraglich vereinbarten Arbeitszeiten würden unterschritten, sobald sie nicht mehr dokumentiert werden. Im Gegenteil: Die Zahl der geleisteten Mehrarbeitsstunden stieg nach Abschaffung starrer Arbeitszeiten sogar an. Deutschlandweit lag sie im vergangenen Jahr laut Auskunft der Bundesregierung bei über 2 Milliarden Stunden.

Ursprünglich hatte die Vertrauensarbeitszeit neben einer Senkung der Personalkosten zum Ziel, den Anforderungen einer modernen Welt Rechnung zu tragen, die eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie erfordert. Die Flexibilität sollte erhöht, die Eigenverantwortung – und damit die Motivation – der Arbeitnehmer gesteigert werden.

Ist- und Sollzustand der Zeiterfassung

Deren Arbeitgeber schenkten ihnen das Vertrauen, ihre vertraglich vereinbarten Arbeits- und Ruhezeiten auch ohne kontrollierende Instanzen einzuhalten und sich im Rahmen dieser Vorgaben selbst zu organisieren. Mehrarbeit sollte nicht mehr für Extra-Urlaubstage angehäuft, sondern in kleinem Umfang mit einem Zeitausgleich kompensiert werden.

In Deutschland musste bislang denn auch nur die Arbeitszeit dokumentiert werden, welche über die Regelarbeitszeit von 8 Stunden täglich hinaus geleistet wurde. Diese Praxis ist laut des Urteils des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg (EuGH) jedoch unwirksam. Wie, so die Ausgangsfrage des Urteils, soll man Mehrarbeit erfassen, wenn weder die reguläre Arbeitszeit von maximal 48 Stunden pro Woche noch Ruhezeiten von täglich mindestens 11 Stunden dokumentiert werden? Es sei daher erforderlich, Arbeitszeiten innerhalb der EU künftig exakt zu erfassen.

 

 

– Aber warum das Ganze überhaupt? Das können Sie in Teil 2 dieses Beitrags nachlesen. –


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