Mindestlohnerhöhung: Ist sie wirklich ein großer Schritt?

Zum 1. Oktober 2022 wurde der Mindestlohn in Deutschland auf 12 Euro brutto je Stunde angehoben. Dies bedeutet nicht nur eine Lohnerhöhung für viele Beschäftigte, sondern auch viel Rechenarbeit und Organisationsaufwand für deren Arbeitgeber. Weitere Auswirkungen sind absehbar: Mittelfristig wird wohl mit Preissteigerungen und tariflichen Auseinandersetzungen zu rechnen sein.

Fairness auf dem Arbeitsmarkt

Die Erhöhung des Mindestlohns war bereits im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung festgelegt und wurde in mehreren Schritten vollzogen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg er damit insgesamt um 25 Prozent. Ziel: Ein fairer Wettbewerb um Arbeitskräfte. Unangemessen niedrige Löhne sollen damit künftig ausgeschlossen und mehr Arbeitnehmer in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse überführt werden.

Mindestlohn und Medianlohn

Bis 2015 existierte keine solche Lohnuntergrenze in Deutschland, was zu teilweise skurrilen Stundenlöhnen führte. Der heutige Mindestlohn orientiert sich am so genannten Medianlohn und entspricht 60 Prozent dieses Mittelwertes deutscher Stundenlöhne. Wer weniger verdient, gilt bereits als armutsgefährdet. Der Mindestlohn stieg seit 2021 um 25 Prozent.

Wer bestimmt eigentlich den Mindestlohn?

Die so genannte, unabhängige Mindestlohnkommission besteht aus einem/einer Vorsitzenden und sechs stimmberechtigten sowie zwei beratenden Mitgliedern. Alle fünf Jahre schlagen die Spitzenverbände von Arbeitgebern und Arbeitnehmern je drei Vertreterinnen und Vertreter für die Mindestlohnkommission vor. Diese unterbreitet der Bundesregierung alle zwei Jahre Vorschläge zum Mindestlohn (nächster Termin: 30. Juni 2023 mit Wirkung zum 1. Januar 2024) und evaluiert fortlaufend dessen Auswirkungen.

Von Praktikanten und Niedriglöhnern: Auch und gerade sie profitieren unter Umständen am meisten von der Mindestlohnerhöhung

Der Mindestlohn gilt für alle Arbeitnehmer ab 18 Jahren, unter bestimmten Voraussetzungen auch für Praktikanten. Auszubildende, Langzeitarbeitslose, selbstständige und ehrenamtlich tätige Personen gelten hingegen nicht als Arbeitnehmer im Sinne des Mindestlohngesetzes.

Insgesamt profitieren 6,2 Millionen Menschen von der Erhöhung des Mindestlohns. Die Hälfte von ihnen arbeitet im so genannten Niedriglohnsektor, in dem wiederum Frauen mit 57 Prozent den Löwenanteil ausmachen. In ihm sind auch deutlich mehr Ost- als Westdeutsche beschäftigt – vorwiegend in Branchen wie dem Handel, dem Gastgewerbe und dem Gesundheits- und Sozialwesen.

Viele, viele Minijobber. Hätten Sie’s gedacht?

6,2 Millionen Menschen entsprechen gut 22 Prozent aller Beschäftigten – doppelt so viele wie bei Einführung des bundesweiten Mindestlohns im Jahr 2015. Durch Mini- und Teilzeitjobs stieg dieser Wert ebenso an wie durch Berufsneulinge und Wiedereinsteiger.

Gastgewerbe und Einzelhandel sind besonders betroffen

Diese und andere Branchen waren in den vergangenen Jahren bereits durch arbeits- und geldmarktpolitische Vorgänge, die Corona-Krise und weitere Faktoren erschüttert worden. Die Erhöhung des Mindestlohns dürfte sie vor zusätzliche Probleme stellen und mittelfristig zu höheren Preisen beispielsweise in Supermärkten, Restaurants oder Hotels führen.

Nichts wirklich Neues

Der Effekt wäre nicht neu. In Folge der Einführung des ersten Mindestlohns im Jahr 2015 waren in den damals betroffenen Branchen Preissteigerungen um 18 Prozent zu verzeichnen gewesen. Andere Branchen erhöhten ihre Preise im Vergleichszeitraum um lediglich 0,8 Prozent. Der Stundenlohn ihrer Mitarbeiter lag halt ohnehin über dem Mindestlohn.

Nach oben offen: Branchenmindestlöhne

Der gesetzliche Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde gilt als unterste Lohngrenze für nahezu alle Beschäftigten. Lag der tariflich vereinbarte Stundenlohn einer Branche unterhalb des Mindestlohns, musste er innerhalb einer Übergangsfrist an diesen Stundensatz angepasst werden. Meist liegt der so genannte Branchenmindestlohn aber oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns – und differiert je nach Branche stark. So beträgt er beispielsweise für Gerüstbauer derzeit 12,85 Euro, für ungelernte Pflegekräfte 13,70 Euro und für Pflegefachkräfte 17,10 Euro.

Minijob und Mindestlohn: Rechenaufgaben für Personalplaner

Für viele Unternehmen bedeutet die Anhebung des Mindestlohns aber nicht bloß einfach höhere Lohnkosten. Sie müssen darauf achten, dass beschäftigte Minijobber ihre Verdienstobergrenze auch künftig nicht dauerhaft und geplant überschreiten. Eine solche Überschreitung ist lediglich in ungeplanten Ausnahmefällen erlaubt (maximal in zwei Kalendermonaten eines Zeitjahres). Anlässlich der Mindestlohn-Erhöhung ist Kalkulieren angesagt.

Minijob und Mindestlohn: Die magische Grenze

Bei häufiger oder dauerhafter Überschreitung ihrer Verdienstobergrenze gelten Minijobber als Midijobber – und sind in allen Sozialversicherungszweigen beitragspflichtig. Neben den Abgaben für die Renten- und Krankenversicherung muss der Arbeitgeber dann auch solche zur Pflege- und Arbeitslosenversicherung entrichten.

Angehobene Verdienstgrenze

Der Gesetzgeber hat gleichzeitig mit der Erhöhung des Mindestlohns ab Oktober 2022 auch die Verdienstobergrenze von bislang 450 Euro auf 520 Euro angehoben. Damit sind rechnerisch 43,33 Monatsarbeitsstunden möglich, was in etwa dem früheren Niveau von 43,06 Stunden entspricht. Dennoch erfordern die selbst gesetzten oder gesetzlich festgelegten personellen Vorgaben erneutes und exaktes Nachrechnen.

Der Mindestlohnrechner

Sie möchten kalkulieren, ob und wieweit ein Gehalt dem Mindestlohn entspricht und wie hoch der entsprechende Stundenlohn ist? Das geht ganz einfach mit dem Mindestlohnrechner des Bundesarbeitsministeriums: https://www.bmas.de/DE/Arbeit/Arbeitsrecht/Mindestlohn/Mindestlohnrechner/mindestlohn-rechner.html

Mindestlohn: Welche Sanktionen drohen bei Verstößen?

Auftraggeber haften für die Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns. Das gilt auch dann, wenn sie andere Unternehmer mit der Erbringung von Werk- oder Dienstleistungen beauftragen. Mindestlohn- und andere Verstöße können teuer werden: Geldbußen bis zu 500.000 Euro sollen Missbrauch vorbeugen.

Vergleiche mit anderen Ländern

Übrigens setzt Deutschland im innereuropäischen Vergleich keineswegs Maßstäbe beim Mindestlohn, überholt aber mit der jüngsten Erhöhung immerhin Länder wie Belgien, die Niederlande oder das strukturschwache Irland. Spitzenreiter ist Luxemburg mit derzeit 13,05 Euro pro Stunde. Die aktuellen EU-Mindestlöhne können Sie hier vergleichen: https://www.dgb.de/schwerpunkt/mindestlohn/++co++f1183d2a-cd8a-11e4-ade1-52540023ef1a

Bewahrt der höhere Mindestlohn die Betroffenen vor Altersarmut?

Nein, eine armutssichere Rente wird auch durch die jüngste Anhebung des Mindestlohns nicht gesichert. So erlangt ein Arbeitnehmer nach 45 Vollzeitarbeitsjahren bei 12 Euro Stundenlohn lediglich einen Rentenanspruch von etwa 860 Euro. Um nicht als armutsgefährdet zu gelten, müsste seine Rente bei mindestens 942 Euro liegen.

Welche Folgen könnte die Mindestlohnerhöhung haben?

Von Experten werden gleich mehrere Folgeeffekte der Mindestlohnerhöhung erwartet. So dürften etwa die Produkt- und Dienstleistungspreise vieler Unternehmen ansteigen, die die höheren Löhne damit ausgleichen. Ergebnis: Die soeben zumindest unter Mindestlohnempfängern gestiegene Kaufkraft verringert sich prompt wieder.

Die Nachfrage nach Konsumartikeln wird ansteigen

Dieser Effekt dürfte dadurch verstärkt werden, dass über sechs Millionen Menschen in Deutschland seit Oktober deutlich mehr Lohn zur Verfügung steht und erfahrungsgemäß ihre Nachfrage nach Konsumartikeln ansteigen wird. Da aber nicht nur deren Preis, sondern beispielsweise auch die Höhe von Mieten den Gesetzen von Angebot und Nachfrage gehorcht, ist vielerorts mit Kostensteigerungen zu rechnen, die gerade Geringverdienern keinen Raum zum Ansparen lassen.

Der Domino-Effekt

Die Preissteigerungen benachteiligen auch all jene Arbeitnehmer, die nicht von der Mindestlohnerhöhung profitieren, weil ihr Stundenlohn diesen übersteigt. Es ist zu vermuten, dass viele Gewerkschaften versuchen werden, die Gehälter ihrer Mitglieder wieder deutlicher vom Mindestlohn abzuheben und die Abstände im so genannten Lohngitter wiederherzustellen. Der nächste zu erwartende Effekt lautet folgerichtig „tarifliche Auseinandersetzung“.

Der Rotstift macht die Runde

Und das in einer Zeit, in der die Arbeitgeber sich nach den zum Teil mageren Corona-Jahren mit vielen zusätzlichen Kosten herumschlagen müssen. Ob Mindestlohn, steigende Energiepreise oder die Anschaffung eines Systems zur Zeiterfassung (wir berichteten in unserem Blog-Beitrag Das BAG und die generelle Zeiterfassung: Ein Paukenschlag? darüber): Eine langfristige und stabile Planung ist gefragt. Wohl dem, der zumindest beim Thema Zeiterfassungssysteme bereits vorgesorgt hat.

Ein ewiges Hin und Her

Bereits nach der Einführung des ersten bundeseinheitlichen Mindestlohns 2015 stiegen laut einer Auswertung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institutes (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung die Tariflöhne für Beschäftigte stärker als in den Jahren davor. Was wiederum zu höheren Lohnkosten der Unternehmen und Preissteigerungen führte.

Vor allem in der Gastronomie ist mit Preiserhöhungen zu rechnen

Wie erwähnt, dürften sie sich hauptsächlich in Branchen bemerkbar machen, in denen viele Mindestlohnempfänger beschäftigt sind. Die aktuelle Studie des WSI sieht die Gastronomie mit durchschnittlich 3,4 Prozent höheren Mindestlohnkosten weit vorne, während der Einzelhandel mit etwa 1,6 Prozent rechnen muss. Das ist nicht wenig, aber kein Vergleich zur Einführung des ersten Mindestlohns im Jahr 2015. In dieser Zeit stiegen die Einkünfte von Mindestlohnempfängern teilweise noch um satte 15 Prozent.

Makroökonomische Simulationsrechnungen zum Mindestlohn

Simulationsrechnungen der Hans-Böckler-Stiftung https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008230 zeigen auf, dass die Erhöhung des Mindestlohns keinen nennenswerten Einfluss auf die Inflationsrate haben dürfte. Angesichts der verbesserten Einkommenssituation von Millionen Mindestlöhnern sei ein höherer Mindestlohn daher nicht nur sozialpolitisch, sondern auch ökonomisch sinnvoll.

Droht eine Entlassungswelle aufgrund der Mindestlohnerhöhung?

Damals rechneten viele Politiker mit dem Wegfall von Arbeitsplätzen durch zu hohe Lohnkosten. Eine Einschätzung, die inzwischen widerlegt wurde, auch wenn diese Angst auch heute noch geschürt wird. Zwar entfielen seinerzeit wegen des frisch eingeführten Mindestlohns mehrere 100.000 Minijobs. Allerdings nicht, weil die Beschäftigten allesamt entlassen wurden. Im Gegenteil: Etwa die Hälfte wechselte vielmehr in einen sozialversicherungspflichtigen Job.

Preissteigerungen durch Trittbrettfahrer

Dass viele Unternehmen die höheren Lohnkosten an die Verbraucher weiterreichen werden, gilt hingegen als sicher. Manche „Trittbrettfahrer“ verwenden sie außerdem als Vorwand für umfangreichere Preiserhöhungen, wie der Ökonom Joachim Ragnitz vom ifo-Institut Dresden bestätigt. Er spricht von einer „Gewinninflation“, welche die eigentliche Kosteninflation um bis zu 60 % übersteige.

Fazit

So gesehen, ist es fraglich, ob der Mindestlohn auch in Zukunft bei den Beschäftigten nicht nur für eine gerechte Entlohnung ihrer Arbeitsleistung sorgen wird, sondern auch für einen höheren Lebensstandard und finanzielle Planungssicherheit. Gerade letztere wäre überaus wünschenswert. Schließlich ist sie in Zeiten explodierender Rohstoffpreise und Energiekosten schon schwer genug zu finden.