Parallelwelten und Weiße Häuser

Liest man quer über die Tagesnachrichten, gewinnt man oft den Eindruck, die Gesellschaft bewege sich in Parallelwelten. Links ein Artikel über prominente Virologen, die vor verfrühten Lockerungen warnen, rechts konservative Politiker, die frühe Lockerungen fordern. Oben Lauterbach, der Pflegekräfte  auffordert, es beim Impfen ihren PatientInnen gleichzutun, unten Söder, der in Bayern die selbst mitbeschlossene Impfpflicht für Pflegekräfte aussetzt.

Hier die neue Impfkampagne der Bundesregierung, dort die wöchentliche Querdenker-Demo. Und so weiter. Von den mittlerweile irren Schutzregeln ganz zu schweigen. 20.000 immunisierte Menschen im Stadion sind ebenso okay wie 1.000 in Veranstaltungshallen. Zu Omas Geburtstagsfeier darf man aber nur 9 Gäste einladen.

Eine ganz eigene Logik

Verstärkt wird wieder auf Abstandsregeln hingewiesen, während unsere Kinder reihenweise in den Schulen verheizt werden, wo sich die Corona-Fälle trotz Lüftens mehren und sich die Reihen lichten, weil sich viele Schüler in Quarantäne begeben müssen. Womit dann wiederum Ansteckungen im privaten Bereich vorprogrammiert sind. Die man aber ja dank der kurzen Gästeliste zu Omas Geburtstag klein hält. Ah ja.

Es verwundert bei solchem Wirrwarr nicht, dass mittlerweile auch durchgeimpfte, vorsichtige Bürger eine Entscheidung fordern – und sei es die komplette Aufhebung der ohnehin nur noch halbherzigen Schutzmaßnahmen. Denn dass diese uns nicht vor einer Durchseuchung (allein das Wort ist schon menschenverachtend) zu schützen vermögen, ist inzwischen jedem klar.

Sind die Schutzmaßnahmen unser Weißes Haus?

Dann lieber den Reset-Knopf drücken und das Land neu hochfahren? Corona bestrafen, indem wir ihm alle Türen öffnen? Jeden Bürger mit ihm infizieren und abwarten, ob das gut geht? Eine gewagte Strategie, die bildhaft gesprochen an den Sturm auf das Weiße Haus in Washington vor einem Jahr erinnert.

Damals ließ man den nach Präsident Trumps Abwahl aufgebrachten, republikanischen Mob widerstandslos das Allerheiligste der amerikanischen Legislative besetzen. In der Hoffnung, dass ihm bald langweilig würde und er ohne Schaden anzurichten wieder gehen möge. Doch die Eindringlinge verhielten sich nicht friedlich. Es gab Tote und Verletzte, viele Menschen bangten um ihr Leben und wurden nachhaltig traumatisiert.

Der Riss

Noch immer sind die Langzeitfolgen nicht einschätzbar, doch sie sind schon jetzt gewaltig. Denn der Sturm aufs Weiße Haus hat einen Riss in der amerikanischen Gesellschaft hinterlassen. Wenn man seinen Mitmenschen nicht mehr trauen kann, – seinem Bruder, seiner Lehrerin, seinem Nachbarn -, muss man lernen, mit der Unsicherheit zu leben.

Auch in Deutschland klafft bereits ein Graben zwischen den Menschen und ihren Ansichten darüber, was jeder Einzelne der Gesellschaft oder der eigenen Freiheit schuldig ist. Viele Mitmenschen sind uns fremd geworden oder – schlimmer noch – rufen den Verdacht hervor, sie nie richtig gekannt zu haben. Der Lack ist ab. Nun sehen wir einander bestätigt oder mit anderen Augen.